Die Photographie, so könnte man denken, ist längst “ganz oben“ angekommen, soll heißen: Fotos werden in Kunstgalerien zu hohen Preisen gehandelt, bei Versteigerungen werden mit Fotos ganz
unerhörte Preise erzielt, und Fotos finden sich völlig selbstverständlich in den Sammlungen großer Kunstmuseen.
Trotzdem: man sieht es selten, dass Fotos gleichrangig zwischen Gemälden und Zeichnungen hängen. Man spürt, dass auch die Museumsleute bei der Einreihung von Fotos unter die Exponate eine gewisse
Vorsicht walten lassen. Es ist, als ob das alte Vorurteil noch immer nachwirke, wonach Photographie etwas anderes sei als Kunst.
Welche Photographie? muss man da sogleich fragen, denn nur ein winziger Teil der weltweit unüberschaubar riesigen Fotoproduktion kommt für unsere Überlegungen in Frage: wir wollen uns hier
ausschließlich mit solchen Fotoarbeiten befassen, die in einem künstlerischen Gestaltungsprozess entstanden sind.
Und was heißt das?
Ein Kunstwerk ist der geformte Ausdruck einer inneren Ordnung des Schaffenden -
anders gesagt: etwas Geistiges nimmt im Werk sinnlich erfahrbare Gestalt an.
Dies lässt sich an Rembrandts Nachtwache eben so zeigen wie an Malewitschs Schwarzem Quadrat. Und schon, wenn ein Kind nur eine Ente auf einem Teich malt, vollzieht sich diese Umsetzung einer
inneren Vorstellung in sichtbare Zeichen auf dem Papier.
Das, was ich hier innere Ordnung nenne, kann man vielleicht wie eine geistige Blaupause verstehen, nach der sich die Gestaltung des Kunstwerks richtet. Was gemeint ist, hat in unübertrefflicher
Weise Caspar David Friedrich in eine Regel gefasst:
“Der Maler soll nicht bloß malen, was er vor sich sieht, sondern auch, was er in sich sieht. Sieht er aber nichts in sich, so unterlasse er auch zu malen, was er vor sich sieht.“
Wenn man Malen durch Ablichten ersetzt, gilt die Regel auch für Photographen:
“. . . Sieht er aber nichts in sich, so unterlasse er auch abzulichten, was er vor sich sieht.“
Unkundige würden jetzt wohl einwenden: Photographie kann doch nur das ablichten, was schon sichtbar vorhanden ist; wie soll denn da etwas “künstlerisch gestaltet“ werden?
Aber selbst die, die so fragen, glauben nicht ernstlich, dass Photographen das Ablichten dem Zufall und der Automatik überlassen. Vielmehr gibt es, angefangen von der Suche nach einem bestimmten
Motiv und dem Griff zur Kamera bis hin zur Präsentation eines gelungenen Ergebnisses, eine Kette von technischen und ästhetischen Entscheidungen, die bei jeder Ablichtung getroffen werden müssen.
Und je nach Charakter, Begabung und Erfahrung sehen die Fotos des einen anders aus als die der anderen.
Gewiss: manchem Gelingen kommen besonders glückliche Umstände zu Hilfe; aber in der Fähigkeit, solche Umstände im rechten Moment zu nutzen, sind die Menschen eben so verschieden wie der jeweilige
Grad ihrer Erwartungshaltung und ihrer inneren Gespanntheit.
So kommt es also zu dem, was wir beim Betrachten den Ausdruck nennen, ein Ausdruck, der ohne Worte, aber durch deutbare Zeichen zu uns spricht. Dass wir diesen Ausdruck überhaupt wahrnehmen, ist
Beweis genug für die künstlerische Gestaltungsfähigkeit mit den Mitteln der Photographie.